Windstärke 7 / 8

Windstärke 7 / 8

28.–31. März 2025, Chile.

Nachts um halb drei beginnt das Bett zu schwanken. Die Schwerkraft drückt uns in die Matratze, der Bettvorhang fährt an der Stange auf und ab. Unsere Rucksäcke rutschen den Boden entlang, Äpfel fallen aus dem Schrank. Wir sind auf dem offenen Meer angekommen – zwölf Stunden Wind und Wellen liegen vor uns.

Die Fähren der chilenischen Reederei Navimag verbinden die Magellan-Provinzen am südlichen Zipfel Chiles mit der Mitte des Landes, schippern Cargo, LKWs und in der Hauptsaison Passagiere zwischen Puerto Natales und Puerto Montt. Wir haben uns im letzten Moment entschieden, nicht mit dem Bus weiter nach Norden zu fahren, sondern mit einer dieser Fähren Richtung Pazifik. Chilenische Fjorde statt argentinischer Pampa. In El Chaltén steigen wir morgens in den Bus, buchen mittags die Tickets, erreichen nachmittags Puerto Natales, gehen abends an Bord, legen am nächsten Morgen ab. Mehr Last Minute geht nicht.

Tag 1

Die Fahrt durch die Kanäle Westpatagoniens ist keine Kreuzfahrt, vier Tage Fähre ohne Schnickschnack. Die Online-Rezensionen sind deshalb durchaus gemischt. Es gibt an Bord weder Internet noch ein nennenswertes Bespaßungsprogramm. Besonders viele Tiere sieht man nicht, meist regnet es, dann sind die Fjorde in trüben Nebel gehüllt. Und auf der letzten Fähre der Saison Ende März fährt nicht einmal die Yogalehrerin mit.

Frühstück, lesen, aufs Wasser schauen, schreiben, Mittagessen, lesen, spielen, Vögel beobachten, Abendessen, lesen, puzzlen, schlafen, und alles wieder von vorn. Uns tut das gut, nach den aufregenden ersten Wochen in Patagonien. Pure Entschleunigung.

Auch wenn die Kabinen und die Aufenthaltsräume auf dieser letzten Fahrt der Saison nur zu einem Drittel gefüllt sind: Aus dem Weg geht man sich auf dem Boot nur schwer. Also lernen wir uns kennen, am Esstisch, auf Deck oder im gemütlichen Café-Raum. Es sind einige Chilenen und Argentinier an Bord, aber die meisten Gäste sind Backpacker und Weltenbummler, aus Deutschland, Frankreich, Niederlande, Australien.

Wir spielen Karten, legen Wörter, würfeln Päsche und haben Zeit für lange Gespräche. Tauschen uns über das Reisen aus, Geschichten von unterwegs und Ratschläge für die nächsten Stationen. Wir treffen Radreisende, die das gewagt haben, was uns eine Nummer zu groß war: Mit den Trekkingbikes durch die Pampa, die Steppe, die Wüste, über die Anden, mit den Wind, gegen dem Wind, bei Regen, bei 40 Grad. Ein wenig leuchten unsere Augen schon, als wir ihren Geschichten lauschen – und sind zugleich sehr zufrieden damit, es bei dieser Reise anders angegangen zu sein.

Die Schiffsroute von Puerto Natales nach Puerto Montt durch das chilenische Patagonien ist zu Beginn wenig abwechslungsreich, Wasser, Felsen, graugrüne Wälder, in der Ferne blitzt bei guter Sicht ein Schneefeld auf einem Berg durch. Viele Jahrhunderte lang zogen die Kawésqar, ein Volk indigener Seenomaden, in ihren Kanus durch diese zerfranste Fjordlandschaft auf der Jagd nach Fisch und Seelöwen. Ihre Boote sind heute verschwunden: Im 19. Jahrhundert wurden die Kawésqar nahezu ausgerottet, unter anderem in Folge der aggressiven Besiedlungspolitik Chiles. Ganz ähnlich erging es auf argentinischer Seite den Selk’nam in Feuerland. Zwar stellte der chilenische Staat die Kawésqar Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts unter Schutz, siedelte die wenigen Überlebenden jedoch in ein Dorf um, das auf unserer Schiffsroute liegt und nur per Boot erreichbar ist: Puerto Edén. Damit ging ihre nomadische Lebensweise und große Teile ihrer Kulur verloren. In der Schule mussten die Kinder Spanisch sprechen, heute beherrschen Schätzungen zufolge weniger als 20 Menschen noch die Sprache der Kawésqar (einen beeindruckenden Einblick in ihr Schicksal gibt der chilenische Dokumentarfilm „Der Perlmuttknopf“ von Patricio Guzmán).

Tag 2

Das Wetter ist durchwachsen, viel Nebel, Wind, Regen, aber das passt hierher. Frühmorgens am zweiten Tag legt die Fähre in Puerto Edén an, um Waren abzuladen und aufzunehmen – Landgang ist nicht vorgesehen. Danach fahren wir weiter durch enge Kanäle, das Ufer scheint bisweilen auf beiden Seiten zum Greifen nah. Als das Wasser wieder breiter wird, setzen wir plötzlich zwischen den Inseln den Anker. Das ist eine schlechte Nachricht: Wir können die anstehende Passage auf offener See nicht befahren, der Wind ist zu heftig.

Wir warten. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, sechs Stunden. Den gemächlichen Tagesablauf bisher habe ich genossen, aber das Warten, den absoluten Stillstand, das halte ich nicht gut aus. Lesen, essen, lesen, quatschen. Wann geht es endlich weiter, was bedeutet das für unsere Ankunfrszeit? Abends nach dem Essen bricht endlich die Wolkendecke auf, wir stehen auf Deck und staunen über die Farben, die die Sonne den Wolken, den Bergen, dem Wasser, unserem Boot verpasst. Wir lichten den Anker, fahren in die Nacht, aufs offene Meer.

Tag drei

An Schlaf ist seit 2:30 nicht mehr zu denken, mit Hörbuch im Ohr bin ich im Kabinenbett durch die Nacht geschaukelt. Fuerza 7 / 8 (Windstärke), so hat es der Kapitän in sein Logbuch für 6 Uhr eingetragen. Durch die Flure wanken wir zum Frühstück, wir stützen uns abwechselnd an der linken und an der rechten Wand ab. Wir gehen kurz aufs Deck, halten uns an den Stangen fest, der Blick aufs Meer ist atemberaubend. Wild neigt sich das Boot nach links und rechts, wir fixieren den Blick fest auf die Berge an der Küste, damit uns nicht übel wird.

Im Frühstücksraum sehen wir, dass es Isabel, eine der Chileninnen, schlimm erwischt hat. Die Nacht hatte sie mit Tabletten einigermaßen überstanden, aber dann morgens eine Panickattacke bekommen, als sie zum ersten Mal aufs wilde Meer schaute.

Langsam kehrt bei ihr Ruhe ein, und auch wir kommen einigermaßen zurecht. Bis zum Nachmittag müssen wir noch durchhalten, dann biegen wir wieder in die Fjorde ein.

Für die Chilenen und Argentinier ist die Fähre attraktiv, weil sie sich über 24 Stunden Auto- oder Busfahrt sparen und ihr Auto mitnehmen können. Isabel und ihr Mann haben in ihres den gesamten Hausstand eingepackt. Drei Jahre haben die beiden in Puerto Natales gelebt, sie in der Tourismusbranche arbeitend, er mit einem Job im Nationalpark Torres del Paine. Die Stelle war befristet, nun müssen sie zurück in ihre alte Heimat, nach Santiago de Chile. Sie sind traurig, die patagonische Natur gegen eine Großstadt einzutauschen.

Wir haben das offene Meer hinter uns gelassen, als uns die Crew informiert, dass wir zwar später, aber immer noch wie geplant am vierten Tag ankommen werden. Also beginnt nun unser letzter gemeinsamer Abend, und er hält eine Überraschung bereit: Eine der Französinnen hat gemeinsam mit der Crew einen Karaoke-Abend organisiert. Und hartnäckig bringt sie fast jeden dazu, mitzusingen. Herrlich mischen sich Karaoke-Klassiker mit chilenischen Schlagern und spanischen Partysongs, dazwischen französische Chansons und australischer Pop. Die Französinnen singen von den Champs-Élyssées, Isabel sucht sich Alanis Morisette aus, ich Johnny Cash. Die Tische, an denen in den vergangenen Tagen englisch und an denen spanisch gesprochen wurde, rücken zusammen.

Zum Schluss tanzen und singen wir gemeinsam Macarena und liegen uns bei Elvis Presley in den Armen. Draußen glitzern über uns die Sterne, das Wasser ist jetzt ganz ruhig, Windstärke 1, höchstens.

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